Biokinematik
1. Begriffsklärung
Die Biokinematik betrachtet die Funktion unseres Bewegungsapparates mittels der physikalischen Gesetze der Kinematik (der Bewegungslehre der Mechanik) unter Berücksichtigung biologischer Vorgänge im Körper. Was das genau bedeutet, werden wir in den Kapiteln Bewegung, Schmerzen und Muskellängentraining anschauen.
2. Entstehung der Biokinematik
Walter Packi
Die Medizin nach der Biokinematik wurde vom Freiburger Arzt Walter Packi (1951-2021) in Deutschland entwickelt. Nach dem Medizinstudium war er unter anderem Fliegerarzt bei der Bundeswehr. Darauf folgte 1981 die Ausbildung in Lahr (DE), wo er die gesamte orthopädische Chirurgie und Unfallchirurgie erlernte. Zudem war er von 1981-1997 Lehrer für funktionelle Anatomie und ärztlicher Leiter der Physiotherapieschule in Lahr. 1983 trat er in die Landarztpraxis seines Vaters ein und wurde zum Facharzt für Allgemeinmedizin ausgebildet. In seiner Tätigkeit als Landarzt wurde er mit dem Massenproblem Schmerz konfrontiert. Dort gewann er die Erkenntnis, dass die bestehende Medizin keine ausreichende Antwort auf diese Problematik bietet. Ab dieser Zeit erarbeitete er eine eigene Theorie über den Schmerz (Schmerzlogik) auf Basis seiner schulmedizinischen Kenntnisse aus. Durch autodidaktische Studien an der Universität in Freiburg (DE), der Geometrie und Mathematik, konnte er während dieser Zeit die Lösung und somit den Nachweis für seine Theorie finden, dass Schmerz in Zusammenhang mit Bewegung steht. 1988 gründete er die erste Praxis für Biokinematik in Freiburg, wo er die Therapiemethode Biokinematik stetig weiterentwickelte. 2003 folgte die Gründung der ersten Klinik für Biokinematik in Badenweiler.
Ilona Kunzelmann
Ilona Kunzelmann hat in Freiburg (DE) Medizin studiert. In ihrer Zeit als Assistenzärztin hat sie Erfahrungen in der Inneren Medizin, der Chirurgie und als Notärztin sammeln können. Ab 2003 arbeitete sie für drei Jahre bei Walter Packi in dessen Praxis sowie in seiner Klinik. Dort lernte sie die Biokinematik von Grund auf verstehen und anwenden. 2007 gründete sie in Schliengen (DE) ihre eigene Privatarztpraxis. Seit 2012 führt Ilona Kunzelmann ihre Praxis für Biokinematik in Männedorf in der Schweiz.
Ilona Kunzelmann bildet in der Schweiz seit einigen Jahren Biokinematiktherapeuten und seit 2018 zusätzlich auch Biokinematiktrainer aus.
3. Bewegungsmechanik
Gelenk
Damit wir uns fortbewegen können, brauchen wir im Körper eine Bewegungsmechanik. Diese setzt sich aus mindestens zwei Knochen, einem Gelenkband und zwei Muskeln zusammen.
Jeweils über den einander entgegengesetzten Knochen ist ein Überzug aus Knorpel. Diese ganze Einheit wird von einer Gelenkkapsel umgeben. Zwischen den zwei Knochen befindet sich der Gelenkspalt mit seiner Gelenkflüssigkeit.
Mit all diesen Komponenten wird in der Anatomie von einem echten Gelenk gesprochen.
Die passiven Strukturen des Gelenkes wie Knochen und Bänder, gehören zum Binde- und Stützapparat und führen keine Bewegung aus.
Knorpel(schaden)
Die Gelenkfläche, respektive der Knochen ist mit Knorpel umgeben. Dieser ist je nach Gelenk mehrere Millimeter dick. Der Knorpel ist nicht ans Blutgefässsystem angeschlossen und wird aus diesem Grund nicht durch das Blut ernährt. Daher kommt seine weisse Farbe. Die Gelenkflüssigkeit (Synovia) ist die Gelenkschmiere und Nährlösung für den Knorpel. Sie überspült die Oberfläche des Knorpels und ernährt dessen Oberfläche durch Diffusion (Durchmischung, Eindringung). Die Gelenkflüssigkeit muss auch in die Tiefe dringen können, um die tiefliegenden Knorpelzellen zu ernähren. Dies geschieht durch einen Mechanismus, der als Knorpelpumpe bezeichnet wird.
Muskel
Die Skelettmuskulatur besteht aus vielen Einheiten von Muskelzellen, die parallel und seriell aneinandergereiht sind und die Muskelfaser bilden. Diese wiederum fassen sich zu Muskelfaserbündeln zusammen. Viele Muskelfaserbündel fassen sich dann zum eigentlichen, für uns teils tastbaren, Muskel zusammen. Die Muskelfasern, Muskelfaserbündel sowie der ganze Muskel sind je mit einer Hülle aus Bindegewebe umgeben.
Die Skelettmuskulatur unterliegt dem zentralen Nervensystem (Gehirn, Rückenmark und den Körper versorgenden peripheren Nerven). Die Muskulatur unterliegt somit dem Willen, d.h. wir können diese bewusst, willentlich ansteuern. Die einzelnen Muskelfasern sind kontraktil, d.h. sie können sich zusammenziehen, wenn vom zentralen Nervensystem (Gehirn) ein entsprechender Befehl zur Muskulatur kommt.
Ein Muskel hat eine Doppelfunktion: Er produziert Kraft und er bewegt. Dadurch verrichtet er Arbeit (Arbeit = Kraft x Weg). So ist es die Muskulatur, die eine aktive Bewegung erst möglich macht.
Bewegungsausführung
Als Beispiel betrachten wir zusammen das Ellenbogengelenk. Damit der Arm gebeugt und gestreckt werden kann, brauchen wir zwei Muskeln. Einer für die Beugung des Ellenbogens und einer für die Streckung. Man nennt diese zwei benötigten Muskeln Spieler und Gegenspieler.
Wenn wir den Beugemuskel bewusst ansteuern, verkürzt sich dieser. Sein Gegenspieler muss um dieselbe Länge nachgeben, wie der Beuger sich verkürzt hat und umgekehrt. Bewegungsumfang wie Bewegungsbahn sind vom Zusammenspiel beider Muskeln abhängig.
Zudem können miteinander in Verbindung stehende Muskeln sogenannte funktionelle Muskelketten bilden, die einen Bewegungsablauf zusammen ausführen. Eine Muskelkette kommt in Aktion, wenn wir z.B. einen Ball werfen. Dabei ist nicht nur der Beuger oder Strecker im Ellenbogengelenk in Aktion, sondern die Muskulatur von der Hand über die Schulter bis zum Rumpf hin.
4. Schmerzen
Schmerzprozess
Wie wir nach unserem Biologie-Exkurs wissen, besteht ein Muskel aus vielen einzelnen Fasern. Diese Muskelfasern werden bei einer Bewegung einzeln in die gleiche Richtung in Aktivität gesetzt. Kommt es in den Muskelfasern zu Veränderungen, beispielsweise durch Überdehnungen, Verletzungen, Operationen, einseitige Belastungen durch den Beruf oder Sport, verändert dies auch die Bewegungsbahn und die ganze Bewegungsmechanik (Muskeln, Bänder, Knochen) passt nicht mehr zusammen. Dadurch kommt die Bewegungskraft am falschen Ort an und es kommt zur Bewegungsbeeinträchtigung.
Ist nun in unserem Körper derartiges vorgefallen, so dass die Bewegungsabläufe funktionell beeinträchtigt sind, wird dieser Vorfall dem Bewusstsein gemeldet und dort verarbeitet. Erst durch diesen Bewusstseinsprozess verspüren wir den Schmerz als solchen.
Ein Schmerzprozess besteht daher aus einer körperlichen Veränderung sowie deren bewusster Verarbeitung.
Den Schmerz verspüren wir durch unser Bewusstsein dort, wo es zum Schutz für unseren Körper am sinnvollsten ist, damit er keinen weiteren Schaden nimmt. Deshalb befinden sich der Schmerz und die Ursache oftmals nicht am gleichen Ort.
Funktionsbeeinträchtigung
Die Kardinalsfrage ist: In welchem Muskel beeinträchtigen die Muskelfasern die Bewegungsbahn und verursachen Schmerzen?
Die Ursache findet sich im jeweiligen Gegenspieler des sich verkürzenden Muskels. Ein Muskel kann sich grundsätzlich ungestört verkürzen. Wenn sich im Gegenspieler eine fehlregulierte Spannung eingestellt hat, d.h. eine oder mehrere Einzelfasern sich zu fest verkürzt haben oder der Muskel grundsätzlich stark verkürzt ist, so kann dieser um die benötigte Länge nicht nachgeben. Daneben kann nicht nur der Gegenspieler alleine die Funktion beeinträchtigen, sondern auch die damit verbundene funktionelle Muskelkette. Dies führt zu einer Veränderung der Bewegungsbahn und somit der Bewegungsgeometrie und ist quasi der Kugelpendel, der nicht mehr in seiner vorgegebenen Bahn läuft.
Schmerzursache
Aus all diesen Fakten können wir schliessen, dass die Ursache für Schmerzen am Bewegungsapparat in der Regel nicht bei den Gelenken, Knochen, Nerven oder durch Entzündungen und Arthrose zu suchen ist, sondern in der Muskulatur.
Zusammenfassend können wir sagen, dass zur Schmerzbehandlung weder die Steigerung der Kraft, noch die Erweiterung des Bewegungsumfangs zur Ursachenbekämpfung dient, sondern ein Wiederherstellen der Bewegungsbahn und damit der natürlichen Bewegungsabläufe.
5. Muskeltraining
Wahrnehmung
Der Skelettmuskel wird willentlich gesteuert. Das Trainingsergebnis ist aus diesem Grunde entscheidend davon abhängig, wie man sich den Trainingsreiz in Gedanken vorstellt. Um einen Muskel bewusst ansteuern zu können, müssen wir diesen wahrnehmen, d.h. zum Muskel hindenken, um diesen zu „spüren”. Dies ermöglicht, den Muskel gezielt zu aktivieren.
Das Trainieren der Wahrnehmung bringt uns zusätzliche Vorteile: Bewegungen, Körperhaltung und Bewegungsmuster werden wieder bewusster wahrgenommen und freier ausgeführt.
Muskelwachstum
Wir haben von Geburt her eine gegebene Anzahl an Muskelfasern. Diese können nicht vermehrt werden. Die Muskelfasern bestehen aus vielen Muskelzellen, die parallel und seriell aneinandergereiht sind. Diese können vermehrt werden. Durch gezieltes Training können entweder mehr Muskelzellen seriell oder parallel eingebaut werden.
Muskelängentraining
Sowohl Bewegungsumfang wie auch Bewegungskraft sind beim Muskel variabel. Durch Muskeltraining oder besser gesagt Arbeitstraining, kann der Bewegungsumfang, ebenso wie die Muskelkraft, verändert werden. Arbeitstraining setzt sich, wie uns bereits bekannt ist, aus Arbeit = Kraft x Weg zusammen. Daher ist ein Muskeltraining grundsätzlich ein Arbeitstraining und kein Krafttraining!
Wenn wir uns entscheiden, mehr Muskelmasse anzutrainieren, so geschieht dies durch spezifisches Muskeltraining (Arbeitstraining):
■ Der Muskel wird unter Spannung in maximale Verkürzung gebracht (Weg)
■ Dabei wird gegen einen äusseren Widerstand, z.B. eine Hantel, angestrengt (Kraft)
Ist der Muskelreiz gross genug, wird dem Körper vermittelt, dass er hier zu wenig Kraft hat und es werden mehr Muskelzellen parallel in den Muskel eingebaut. Dies hat zur Folge, dass der Muskel dicker, aber auch kürzer wird.
Damit unsere Muskeln optimal arbeitsfähig sind, sollten sie nicht nur kräftig und massig sein, sondern auch elastisch und beweglich. Denn die Kernaufgabe unserer Muskulatur ist die Bewegung des Körpers und dessen Beweglichkeit. Unsere Muskulatur soll daher kräftig und beweglich sein. Um sie so zu trainieren, braucht es ein spezifisches Muskellängentraining. Hierbei werden Muskelzellen seriell in den Muskel eingebaut. Dadurch wird der Muskel kräftiger und länger.
Wenn wir uns entscheiden, Muskelmasse und Muskellänge anzutrainieren, so geschieht auch dies durch spezifisches Muskeltraining (Arbeit):
■ Die Muskelkette wird maximal in Länge gebracht (Weg)
■ Nun wird von den Enden der Muskelkette her gegen einen äusseren Widerstand angestrengt (Kraft)
Ist der Muskelreiz gross genug, wird dem Körper vermittelt, dass er hier zu wenig Kraft hat und es werden mehr Muskelzellen seriell in den Muskel eingebaut. Dies hat zur Folge, dass der Muskel länger und kräftiger wird.
Warum nicht einfach den Muskel dehnen?
Durchs Dehnen verändern wir die Muskulatur nicht! Was wir beim Dehnen bearbeiten, ist lediglich die Hülle aus Bindegewebe, welche die Muskelfasern und Muskeln umschliesst. Besser bekannt ist dies seit einigen Jahren unter dem Wort Faszien-Dehnung oder Faszien-Training. Wenn wir bis jetzt unseren Körper vor, während oder nach dem Sport gedehnt haben, haben wir nichts anderes getan, als unsere Muskelhüllen / Faszien gedehnt. Der Muskel hat sich dabei im „Inneren” nicht verändert.
Dies erklärt unter anderem auch, warum allein die Erweiterung des Bewegungsumfangs, bezogen auf Schmerzen am Bewegungsapparat, bisweilen keinen bleibenden Erfolg hatte.
Ausschnitte aus der Broschüre „Biomatik Basiswissen“.
Die Infobroschüre kann bei uns in der Praxis bezogen werden.
© Praxis RüggäWind GmbH | Martin Feller